Schuld und Schuldgefühle

Anna, Mutter eines an Schizophrenie erkrankten Sohnes im Gespräch über Schuld und Schuldgefühle.

Der Sohn von Anna leidet seit einigen Jahren an einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis. WARUM GERADE WIR? – diese Frage hat sich auch in ihrer Familie in unterschiedlichen Formen gestellt. Mit Daniela Schreyer hat sie sich darüber unterhalten, wie ein guter Umgang mit Schuldgefühlen und Schuldzuweisungen gelingen kann.
Anna, Angehörige und Mitarbeiterin in der Selbsthilfe für Angehörige

Vor einigen Jahren ist Ihr Sohn an Schizophrenie erkrankt. In vielen Familien taucht dann sofort die Frage nach dem WARUM auf. Man sucht nach Gründen innerhalb der Familie, die „schuld“ daran sein könnten. Wie war das bei Ihnen?

Anna: In unserem Fall brach die Erkrankung nicht mit einem Mal aus und wurde als solche diagnostiziert. Es war eine langsame Entwicklung von zunehmender Depression während der Pubertät, Schwierigkeiten in der Schule und dann mit 22 die erste erkennbare Psychose, die zum ersten Besuch bei einer Psychiaterin geführt hat. Dann traten mehr und mehr Symptome aus dem schizophrenen Formenkreis auf, ohne dass aber diese Diagnose ausgesprochen wurde. Wir waren in der Familie mehr damit beschäftigt, das tägliche Leben zwischen Arztbesuchen, Arbeitsversuchen und Therapeuten zu organisieren sowie unser aller Zusammenleben. Für Schuldgefühle war da wenig Platz. Eher für die Frage: Warum muss mir/ uns das passieren. Diese Frage stellte v. a. auch unser Sohn täglich und wiederkehrend und machte immer andere Familienmitglieder und Geschehnisse, insbesondere Handlungen und Einstellungen seiner Eltern, Verhalten und Beziehung zu den jüngeren Brüdern dafür verantwortlich. Das kommt auch heute, sechs bis acht Jahre später, immer wieder vor. 

Wie gehen Sie und Ihre Söhne dann mit diesen Vorwürfen des erkrankten Sohnes um? 

Anna: Anfänglich habe ich alles von mir gewiesen, wohl aus Selbstschutz, mit der Zeit und mit besserer Gesprächskultur habe ich verständliche Argumente dagegen gesucht, das hat auch mir in der Argumentation mit mir geholfen. Manchmal einigen wir uns auf einen Gesichtspunkt, und wenn hartnäckig nicht, schließe ich ab damit, dass ich sozusagen an meinem Ende angelangt bin und schlage ihm vor, das Gespräch weiter mit der Psychotherapeutin zu vertiefen. Das tue ich insbesondere, wenn er seine Vorwürfe gegen andere, abwesende Mitglieder der Familie richtet. In dieser Situation kann m. E. helfen, sich immer wieder zu vergegenwärtigen, dass auch ohne Erkrankung bei vielen die Tendenz besteht, nach Schuldigen zu suchen, wenn die Wirklichkeit von den Erwartungen abweicht.

Noch vor einigen Jahrzehnten wurden von anerkannten Fachleuten Theorien entwickelt (z.B. „Schizophrenogene Mutter“, „Double-bind“), in denen der schädlichen Beziehung zwischen Eltern und Kindern die Schuld an der Entstehung schizophrener Erkrankung gegeben wurde. Wirken diese längst widerlegten Ansichten heute noch nach?

Anna: Ich persönlich bin glücklicherweise nicht merkbar mit solcher Art von vermeintlichen Schuldzuweisungen konfrontiert gewesen, habe aber häufiger von Eltern, die 5 bis 10 Jahre älter sind als wir (also der Vorgeneration) gehört, dass es für sie ein sehr reales Problem war. Das heißt aber nicht, dass dieser Aberglaube erfolgreich aus der Welt geschafft ist. Aus Gesprächen und trivialer Literatur wissen wir, dass für sämtliche kindliche Störungen die Eltern, insbesondere die Mütter als verantwortlich dargestellt werden. Massiven Vorurteilen kann man erfolgversprechend in erster Linie mit fachlichem Wissen entgegentreten, daher ist auch in meinen Augen die fachliche Aufklärung für Betroffene, Familien und ganz besonders auch in der Gesellschaft so wichtig.

Haben Sie selbst Schuldzuweisungen aus ihrem sozialen Umfeld (Nachbarn, Arbeitskollegen, Freunde, Fachleute) erlebt?

Anna: Ich persönlich glücklicherweise nicht, das liegt aber teilweise wohl daran, dass ich berufsbedingt ein immer wechselndes Arbeitsumfeld habe. Freunde, Nachbarn, Bekannte, die unsere Kinder von klein auf, also bereits vor dem Ausbrauch der Erkrankung kannten, waren immer sehr verständnisvoll. Zu anderen Personen ist der Kontakt nicht so eng, dass zu solchen Äußerungen ermutigt wird. Natürlich schränkt sich das Beziehungsnetz mit der Zeit ein. Der Anlass dazu war bereits vor vielen Jahren, als mein Mann zu mir sagte, pass auf, wem du was erzählst. Eine ranghöhere Arbeitskollegin soll, als er für eine Beförderung in der Diskussion stand, dem gemeinsamen Vorgesetzten und anderen gesagt haben, der solle doch erst mal seine eigene Familie in Ordnung bringen. 

Sind Sie also vorsichtiger geworden im Umgang mit anderen Menschen?

Anna: Ja, Wir suchen uns die Menschen bewusster aus, mit denen wir enger umgehen und in der Folge in die familiäre Situation einführen wollen. Im Umgang mit anderen steht immer auch der Wunsch, den Erkrankten und natürlich auch sich selbst schützen zu wollen irgendwo im Hintergrund. Darunter leidet zwar die Spontanität, neue Beziehungen einzugehen, aber die Qualität der Beziehungen sollte eigentlich zunehmen. 

Die persönliche Schuld setzt im juristischen Sinne absichtliches Handeln voraus, das eine andere Person schädigt. Schuldgefühle aber sind ein vielschichtiges emotionales Geschehen. Welche Gedanken und Erfahrungen haben Sie damit?

Anna: Da die beiden jüngeren Geschwister unseres erkrankten Sohnes mit jeweiligem Altersabstand von zwei Jahren „total normal“ sind, und ich von dem Moment an, wo ich bemerkt habe, dass etwas nicht zu stimmen schien, immer wieder professionelle Hilfe geholt habe, bin ich in diesen gedanklichen Auseinandersetzungen zu dem Schluss gekommen, dass ich zum jeweiligen Zeitpunkt jeweils nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt habe. Das befriedet zwar die Gedanken, aber nicht die Gefühle, die kommen dann immer wieder in den schlaflosen Stunden der Nacht und lassen sich nicht wegargumentieren. Wie, was hättest du anders machen können/ sollen, v. a. warum hast du nicht früher, vorausschauender, anders reagiert? Warum bist du nicht achtsamer mit den damaligen Symptomen umgegangen? Was wäre ab wann erkennbar gewesen?
Am Tag sage ich mir dann, wenn du das alles anders gemacht hättest, wer garantiert dir, dass du es dann besser gemacht hättest? So rücken die Gefühle dann mit der Zeit mehr in den Hintergrund. Sehr hilfreich für mich war auch, möglichst viele Kenntnisse über Art und Verlauf der Erkrankung zu erfahren, sei es durch fachliche Literatur, sei es auf Seminaren. Besonders wertvoll ist dabei auch immer der Austausch mit anderen Angehörigen. 

Schuldgefühle sind schlechte Ratgeber im Umgang mit der psychischen Erkrankung eines erwachsenen Kindes, das selbständig werden soll. Wiedergutmachungsbemühungen der Eltern fördern oft die Abhängigkeiten in den Familien. Gibt es Auswege aus diesem Teufelskreis?

Anna: Natürlich möchten alle Eltern nur das Beste für ihr Kind. Wenn das Kind altersbedingt bzw. krankheitsbedingt über eingeschränkte Möglichkeiten zur eigenständigen Realisierung verfügt, ist die Gefahr der Übertreibung der elterlichen Fürsorge besonders groß. Fürsorgliches Verhalten gegenüber erkrankten Menschen ist ja an und für sich eine normale und sogar menschlich erstrebenswerte Reaktion, auch wenn es immer wieder passiert, dass wir von Außenstehenden dafür kritisiert werden, dass wir unsere Angehörigen „zu sehr verwöhnen, in Watte packen“ usw. Um dabei der Gefahr eines längerfristig eigentlich schädigenden Verhaltens nach Möglichkeit vorzubeugen, hilft u.a. sich häufiger selbst zu beobachten und zu überlegen, würdest du das gleiche auch für andere Kinder im gleichen Alter tun, in gleicher Form und gleichem Ausmaß, und wenn nicht, ist das wirklich so notwendig, und kann er/sie das auch selbständig. So ist eine einfache Hilfeleistung in akuten Krankheitsphasen, wie eine Tasse Tee ans Bett zu bringen immer willkommen und sicher hilfreich, in Phasen von gutem Befinden aber sicher genauso übertrieben und unnötig und daher wieder bewusst zu reduzieren. Auch in solchen praktischen Fragen des täglichen Lebens hilft mir der regelmäßige Austausch mit anderen Angehörigen und vor allem auch mit Personen, die selbst an einer psychischen Erkrankung leiden.

Das Eltern-Sein ist für viele Menschen mit dem Gefühl verbunden, sich für alles, was mit ihren Kindern passiert, verantwortlich zu fühlen. Überschätzen viele Eltern da nicht oft ihre eigenen Einflussmöglichkeiten?

Anna: Ich denke, dass alle Eltern mehr oder weniger bewusst für ihre Kinder nur das Beste wollen, sei das das Gegenteil von dem, was sie selbst erlebt haben, oder genau das Gleiche - jedenfalls immer mit dem Ziel, dass es den Kindern einmal besser gehen soll als ihnen. Sie versuchen daher ganz natürlich, ihre Kinder in diese für sie selbst als positiv erlebte Richtung zu beeinflussen und sich dafür verantwortlich zu fühlen, dass die Kinder das auch tatsächlich erreichen. Sobald die Kinder aber über regelmäßige Außenkontakte, angefangen mit dem Kindergarten, über die Schule bis zur Berufswahl verfügen, schwinden die Einflussmöglichkeiten der Eltern und nehmen die familienfremden Einflüsse zu. Das ist in der Praxis nicht einfach zu akzeptieren bzw. überhaupt erst zu erkennen, vor allem, da wir Eltern ja überzeugt sind, nur das Beste zu wollen und zu tun. 

Wir Menschen sind von Anfang an auf zwischenmenschliche Beziehung ausgerichtet. Wir beeinflussen uns ständig wechselseitig - im Guten wie im Schlechten. Wie könnte es uns gelingen, fehlerfreundlicher mit sich und mit anderen umzugehen?

Anna: Gezielt beeinflussen können wir ja nur das eigene Verhalten. Wenn wir also dem anderen Menschen „seine“ Fehler nicht aufrechnen, sondern aufgeschlossener behandeln, ergibt sich dadurch insgesamt ein besseres Klima für Alle, sei es in der Familie, sei es in der Arbeit. Dabei hilft auch wieder Selbstreflektion, ist die eigene Position in dieser Sache wirklich so wichtig, oder würde weniger, oder anderes auch gehen mit dem gleichen oder eben einem anderen akzeptablen Resultat. Das in die Praxis umzusetzen, dürfte aber wohl ein lebenslanger Lernprozess sein, in dem wir uns selbst auch einige Fehler werden verzeihen müssen  :-)