Stigmafrei
Empfehlungen für Journalist*innen
Psychische Erkrankungen bedeuten in den meisten Fällen großes Leid für die Erkrankten und ihre Familien. Sie können jeden von uns treffen.
Während über körperliche Erkrankungen meist sehr offen gesprochen wird, erzählen psychisch erkrankte Menschen nur ungern über ihren Leidensweg. Zu groß ist ihre Angst vor Stigmatisierung, Ausgrenzung und Diskriminierung, zu oft werden sie an den Rand der Gesellschaft gedrängt, zu oft mit kränkenden Fehlmeinungen und Vorurteilen konfrontiert. Denn obwohl laut WHO etwa jede/jeder Dritte zumindest einmal im Leben von einer psychischen Erkrankung betroffen ist, weiß ein großer Teil der Bevölkerung nur sehr wenig darüber.
Das geringe Wissen der Bevölkerung hat weitreichende Folgen:
- Psychische Erkrankungen werden viel zu spät oder gar nicht als solche erkannt und behandelt, was einen enormen Leidensdruck für Erkrankte und deren Familien bedeutet.
- Die Unwissenheit bildet einen verhängnisvollen Nährboden für Fehlmeinungen, Ängste und Vorurteile gegenüber psychisch erkrankten Menschen. Die negativen Zuschreibungen und Vorurteile führen zu einer Abwertung und Benachteiligung dieser Menschen.
Das öffentliche Bild von Menschen mit psychischen Erkrankungen wird maßgeblich durch die Darstellung in Zeitungen, Fernsehen, Filmen und Online-Medien beeinflusst.
Den Medien kommt somit eine enorme Bedeutung zu: Journalistinnen und Journalisten können mit ihrer Berichterstattung über psychische Erkrankungen entweder Stereotype und negative Vorurteile verstärken oder aber durch Information, Aufklärung und Bewusstseinsbildung Verständnis und Offenheit gegenüber Menschen mit psychischen Erkrankungen fördern und stigmatisierende Fehlvorstellungen reduzieren.
Das Projekt stigmafrei
Ziel des Projektes stigmafrei ist es daher, die im Journalismus Tätigen für die Herausforderungen der Berichterstattung über Menschen mit psychischen Erkrankungen zu sensibilisieren. Vor allem in ihrem Bemühen um eine sachlich fundierte, für den Laien verständliche und ausgewogene Berichterstattung sollen sie unterstützt werden.
Im Rahmen einer Arbeitsgruppe unter der Leitung von Assoz. Prof. Priv.-Doz. Dr. Thomas Niederkrotenthaler und HPE haben Vertreter*innen der Psychiatrie, Psychotherapie, Psychologie, Polizei, Medien, Gutachter, psychosozialen Dienste und selbstverständlich von psychisch erkrankten Menschen und ihren Angehörigen wurden Empfehlungen für Journalist*innen ausgearbeitet. Damit sollen Medienschaffende motiviert werden, mehr Beiträge zum Thema psychische Erkrankung und das Leben damit, zu gestalten. Besonders wichtig ist uns dabei, zur Einbeziehung von Betroffenen und Angehörigen zu motivieren, denn sie sind es, die am wirkungsvollsten zum Abbau des Stigmas beitragen. Weiters informieren wir in diesen Empfehlungen über die Gefahr stigmatisierender Berichterstattung und zeigen Möglichkeiten auf, wie mit dem Themenbereich „Psychische Erkrankung“ positiv umgegangen werden kann.
Im Rahmen von stigmafrei war es uns ein Anliegen, Menschen mit psychischen Erkrankungen, Angehörige, aber auch interessierte Profis auf die Zusammenarbeit mit Medien (Interviews) vorzubereiten. Dafür wurden mehrere Workshops mit einer Medien-Trainerin organisiert, bei denen nicht nur die Inhalte der Medienempfehlungen, sondern vor allem der Schutz der eigenen Person, der Familie und der sicherere Umgang in der Interviewsituation besprochen und auch in einem Rollenspiel geübt. Meist stehen Journalist*innen sehr unter Zeitdruck und brauchen schnell eine Zusage. Daher hatten wir auch besprochen, welche Gedanken jede/r sich bereits im Vorfeld machen sollte (was will ich erzählen, was nicht, ist es für meine Familie / mein erkranktes Familienmitglied ok, will ich nur anonyme Interviews oder sind auch Radio oder sogar TV Interviews möglich, …?) Zahlreiche Betroffene und Angehörige haben sich im Anschluss bereit erklärt, für Interviewanfragen zur Verfügung zu stehen.
Die Seite www.stigmafrei.at sowie die Medienempfehlungen wurden im Rahmen einer Online-Veranstaltung am 8. September 2021 öffentlich präsentiert. Den zahlreichen Teilnehmer*innen aus ganz Österreich wurde nicht nur das Projekt stigmafrei präsentiert, sondern in mehreren Vorträgen wurde auch dessen Bedeutung unterstrichen.
- Univ.-Prof. Dr. Johannes Wancata, Leiter der Klinischen Abteilung für Sozialpsychiatrie MedUni Wien, und Präsident der ÖGPP, Österr. Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik referierte zum Thema „Psychische Erkrankungen sind Volkskrankheiten. Erkenntnisse aus der ersten epidemiologischen Studie zur Prävalenz psychischer Erkrankungen in Österreich“
- Univ.-Prof. Dr. Nicolas Rüsch, Leiter der Sektion Public Mental Health an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II, Universität Ulm, einer der führenden Experten zum Thema Stigma referierte zum Thema „Das Stigma psychischer Erkrankung und die Folgen“
- Persönliche Beiträge über Erfahrungen mit Stigmatisierung brachten Ingrid Machold, Mitbegründerin und langjährige Obfrau des trialogischen Vereins „Freiräume“, Elmar Kennerth, Vorsitzender TIPSI (Tiroler Interessenverband für psychosoziale Inklusion), Sigrid Steffen von AhA!Salzburg sowie die Vorsitzende der HPE Österreich Mag. Angelika Klug ein.
- Assoc. Prof. Priv.-Doz. Dr. MMSc. PhD Thomas Niederkrotenthaler, Stv. Leiter der Abteilung für Sozial- und Präventivmedizin MedUni Wien, Zentrum für Public Health, Leiter: Unit Suizidforschung Medizinische Universität Wien sprach zum Thema „Die wichtige Rolle der Medien - Erfahrungen aus der Berichterstattung über Suizid“
Jede und jeder von uns kann dazu beitragen, dass die Stigmatisierung psychisch erkrankter Menschen und ihrer Angehörigen in den Medien zurückgeht: Wann immer Ihnen ein Bericht zum Themenbereich „psychischer Erkrankung“ auffällt, schreiben Sie einen Leserbrief, eine Rückmeldung an die jeweilige Redaktion. Bedanken Sie sich und loben Sie eine gute, stigmafreie Berichterstattung, oder merken Sie bei einer negativen, stigmatisierenden Berichterstattung an, dass es Sie persönlich betroffen macht, dass sie den Beitrag stigmatisierend finden und dass Sie sich freuen würden, wenn die Medienempfehlungen von stigmafrei Berücksichtigung finden könnten.